PFERDEPRAXIS REINFELD

Dr. Katharina Ehlers     

Traumatische Strecksehnenzerreißung: Unorthodoxe Therapie für ein altes Pferd

Manchmal muss man den lehrbuchmäßigen Pfad der Tiermedizin verlassen, um das Beste für den Patienten zu erreichen.

Sonntag, 1. Advent 2023, Frühstückszeit - Das Telefon klingelt mit einem Notfall. Akute Verletzung am Vorderbein, das Pferd sehr lahm und durch seine medizinkundigen Besitzer schon mit einem Schutzverband erstversorgt.
Die Patientin ist eine 30-jährige Poloponystute, dem Alter entsprechend fit, aber natürlich ein altes Pferd mit verschiedenen Zipperlein.
Die Verletzung zeigt sich als eine saubere und frische Schnittwunde, quer mittig vorne auf dem Röhrbein. Darunter ist die durchtrennte Strecksehne sichtbar. Die Gliedmaße ist voll belastbar, aber aufgrund der Strecksehnenzerreißung wird das Bein nicht normal aufgesetzt, sondern die Stute fußt in Bewegung mit der Vorderseite Fesselkopf auf, das heißt sie "überkötet".
Normalerweise würde man dem betroffenen Pferd einen versteifenden Verband anlegen und Boxenruhe verordnen, doch mussten wir uns in diesem Fall etwas anderes einfallen lassen, denn die Herde besteht aus drei unzertrennlichen alten Pferden bei den Besitzern am Haus. Es gibt zwei Offenställe mit jeweils Platz für zwei Pferde, aber keine Möglichkeit alle drei Pferde gemeinsam aufzustallen, was auch mindestens dem einen anderen Arthrose-geplagten Rentner nicht gut bekäme.
Daher entschieden wir uns für folgende Therapie: Zuerst wird die Wunde mit Klammern verschlossen und mit einem mehrlagigen Verband zur Stabilisierung versorgt. Für die ersten Tage bekommt die Stute Antibiose, schmerzlindernde und entzündungshemmende Medikamente und  Boxenruhe zusammen mit ihrer besten Freundin. Der Wallach bleibt draußen und klebt also bei den Damen vor der Tür, weil er allein den anderen Offenstall und das ganze Paddock kaum nutzen mag. Die Hautwunde heilt daraufhin auch komplikationslos, aber das Bein ist nach wie vor instabil, weil ihm auf Grund der gerissenen Strecksehne der Halt auf der Vorderseite fehlt. Strecksehnenverletzungen beim Pferd heilen (anders als Beugesehnenverletzungen) oft sehr gut, wenn man ihnen genug Zeit gibt. Da die Heilung der Sehne in der Regel mindestens drei Monate dauert - bei alten Patienten eher länger - muss ein längerfristig tragfähiger, den Umständen und der alten Patientin angepasster Plan her. So lange Boxenruhe wie es im Lehrbuch steht, ist in diesem Fall nicht umsetzbar. Daher wagen wir ein Therapie-Experiment: Wir bauen der Stute also eine Castschiene aus leichtem Kunststoff-"Gips", die das Überköten verhindert und die stabilisierende Funktion der kaputten Strecksehne auf der Vorderseite des Beins vorerst übernimmt.

Die Schiene wird aus 10cm breitem Cast in zwei Lagen gearbeitet und mit Folie maßgeschneidert an die Gliedmaße anmodelliert.


Die Schiene ist abnehmbar, sodass der Unterverband regelmäßig gewechselt und die Hautwunden und eventuelle Druckstellen einfach


Mit Panzertape wird die Schiene in Position gehalten und darüber mit einer weiteren Lage Verband (Watte+Flexbinde) fixiert.


Die humanmedizinisch versierten Besitzer können so die Verbände regelmäßig selbst wechseln und die Stute kann mit der Herde zumindest stundenweise auf die Koppel. Durch die Schiene wird eine erneute schwere Traumatisierung während der Heilungsphase verhindert und gleichzeitig halten wir die alte Stute in Bewegung und minimieren den Stress und die negativen Auswirkungen auf die anderen beiden alten Pferde durch Trennung oder Boxenhaft.
Das Ergebnis: Die Stute kam mit der Schiene wunderbar zurecht, kleine Druckstellen können gut gemanagt werden und der materielle Aufwand hält sich mit insgesamt zwei Gipsschienen, die zwischendurch verstärkt und geflickt werden konnten und damit noch etwas länger durchhalten, in Grenzen. 

Drei Monate nach dem Unfall trug die Stute die Schiene nur noch auf der Weide und steht und geht in der Box ohne Schiene stabil. Dreieinhalb Monate nach der Verletzung befreien wir sie komplett von Verband und Schiene und ihr geht es wieder bestens. 

Experiment geglückt!

Die kleine Herde dreieinhalb Monate nach dem Unfall, im Vordergrund die verletzte Stute mit dem verheilten linken Vorderbein - e
Die Poloponystute 10 Monate nach ihrem Unfall mit ihren alten und neuen Weidebegleitern.

Wir sind dankbar, in diesem außergewöhnlichen Fall mit passionierten Pferdebesitzern zusammengearbeitet zu haben, für die - wie für uns - Alter an sich keine Krankheit ist und bei denen ein fröhliches altes Pferd die gleiche Aufmerksamkeit und Fürsorge erhält, wie jedes andere Pferd auch. Es hat sich gelohnt - am allermeisten für Midget, die ihr Leben wieder in vollen Zügen genießen kann.